Beim Schneider

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Ober-Thandorin war die erste Stadt, die sie erreichten, nachdem sie das Lager beim Grabmal am Wegeskreuz verlassen hatten, die mehr als nur drei Hütten und einen Stall umfasste. Ober-Thandorin bestand aus einigen Dutzend Hütten, die sich an die steile Bergflanke eines schroffen Bergmassivs drängten. Sie waren um einen gepflasterten Marktplatz gruppiert, der neben einer Schenke, ein kleines Badehaus, einen Händler und eine Schneiderei aufwies. Weiter außen am Rand der Stadt hatten die Gefährten das Haus eines Schmieds passiert, aus dessen Werkstatt das stete Geräusch des Schmiedehammers erklungen war. Ober-Thandorin schien viel versprechend, und es würde sich mit Sicherheit noch die eine oder andere Werkstatt finden lassen, die ihnen nützliche Dienste in Bezug auf Reparatur und Erweiterung des Reisegepäcks erweisen würde.

Nun, da sie auf dem Marktplatz standen, und ihnen der Geruch frisch gebackenen Brotes in die Nase stieg, war den Gefährten danach, zunächst einmal ein Quartier zu suchen und hier für einige Zeit zu bleiben.

Mijaléjin deutete bergaufwärts, wo man am Ende eines gewundenen Pfades eine kleine Kapelle entdecken konnte.

„Ah!“ Uldveys Gesicht hellte sich auf. „Vorin ist in allen Gotteshäusern. Ich werde der Kapelle heute noch einen Besuch abstatten.“

„Und ich gehe noch einmal ein Stück des Weges zurück“, sagte Malacenta. „Ich habe am Stadtrand im Vorbeigehen einen üppigen Kräutergarten gesehen. Ich will den Besitzer fragen, ob er mir einige der Pflanzen verkaufen möchte.“ Und nach einer kurzen Pause, in der Falk keine Anstalten machte, zu reagieren, fügte Mala hinzu: „Falk! Er wird mich doch sicher begleiten, nicht wahr?“

Falk verzog das Gesicht und nickte nach einem Moment des Überlegens: „Nun komm herzu! sprach Frau Magister“, setzte er an, „drum ... folg’ ihr rasch, sonst gibt es ... Zunder würde besser passen als Zister ...“ Keiner der Gefährten konnte sich das Lachen verkneifen.

„Dann gehe ich schon mal zur Taverne und frage beim Wirt nach Schlafplätzen für die Nacht“, meinte Angus.

„Gut“, nickte Mijaléjin, „dann will ich sehen, ob ich bei dem Schneider dort drüben einen Reisemantel bekomme.“

Die Schneiderei war kleiner, als es von außen den Anschein machte. Unter dem einzigen Fenster des Raumes saß ein hutzeliges Weiblein an einem surrenden Spinnrad. Der hintere Teil des Raumes blieb im Halbdunkel, war aber, wie Mijaléjin mit ihren Elbenaugen erkennen konnte, mit groben Stoffballen, Kisten und Körben mit Wolle voll gestopft.

„Le suilon! – Guten Tag, alte Frau“, sagte Mijaléjin in den staubigen Dunst des Zimmers hinein.

Die Alte räusperte sich mit einem Laut, den Mijaléjin als Reaktion auf deren Schwerhörigkeit deutete.

„Verzeiht“, versuchte sie es mit lauterer Stimme erneut und ging auf die alte Frau zu. „Ich benötige einen Reisemantel.“

„Ah“, das runzelige Gesicht der Vettel hellte sich auf. Sie blinzelte, um den Gast besser erkennen zu können. „Der Herr Torgant ist nicht da.“

Mijaléjin überlegte kurz. „Ist Herr Torgant der Schneider?“

Die Alte gluckste. „Ja, ja. Ist er.“ Sie schien für einen Moment vergessen zu haben, wovon sie gerade gesprochen hatten. Dann fiel es ihr wieder ein, denn sie fügte hinzu: „Herr Torgant ist nach Unter-Thandorin gegangen. Kommt nur noch selten hier herauf.“

„Oh“, Mijaléjin überlegte einen Moment. „Dann hat er nun dort seine Schneiderei?“

Die Alte fing wieder an, das Spinnrad zu drehen. „Ja, ja, das hat der Herr. Ist besser dort, weil mehr Schiffe mit Reisenden ankommen, die Kleider brauchen. Hier herauf verirrt sich selten einer ...“

Mijaléjin nickte. „Und wie weit ist es nach Unter-Thandorin?“

Die Alte legte den Kopf in den Nacken. „Weiß es nicht, bin noch nie dort gewesen.“

Später am Abend erfuhr Mia vom Wirt, dass Unter-Thandorin etwa eine Tagesreise entfernt an der Küste lag. Die Gefährten kamen überein, dass Mijaléjin schon früher dorthin abreisen würde, um sich einen Reisemantel fertigen zu lassen, und dass die anderen dann einige Tage später nachkommen würden.

Es war ein eigenartiges Gefühl, nach langer Zeit des gemeinsamen Reisens, wieder allein unterwegs zu sein, dachte Mijaléjin, als sie am Folgetag dem schmalen Weg nach Westen folgte. Es stellte sich heraus, dass der Wirt mit seiner Einschätzung richtig gelegen hatte. Mijaléjin erreichte die Ausläufer der Küstenstadt am frühen Abend. Noch am selben Tag machte sich Mijaléjin auf die Suche nach dem Schneider Torgant, den sie auch tatsächlich am Rande des Gerber- und Tuchfärber-Viertels fand. Schneider Torgant war ein dürres, freundliches Männchen, das sich ohne Murren bereiterklärte, der Elbin unverzüglich einen einfachen Reisemantel zu nähen. Nachdem sie einen Stoff ausgesucht hatte und vermessen worden war, verabredeten sie für den nächsten Tag eine erste Anprobe.

So kam es, dass Mijaléjin am Nachmittag des nächsten Tages die Schneiderei erneut aufsuchte. Die Werkstatt bestand aus zwei Räumen. Der vordere war der kleinere der beiden und leidlich mit einem Tresen und zwei Holzschemeln ausgestattet. Auf dem Tresen, der aus einigen, zusammengestellten Holzkisten bestand, fand sich ein kleiner Messing-Gong. Mijaléjin verzichtete darauf, ihn zu betätigen, denn sie hörte aus dem hinten Raum – der eigentlichen Werkstatt – gedämpfte Stimmen. Eine davon gehörte zweifellos dem Schneider. Er hatte offenbar Kundschaft. Also setzte sich Mijaléjin auf einen der Schemel und wartete.

Es dauerte nicht lange, bis der schwere Vorhang, der die Werkstatt vom Wartezimmer trennte, angehoben wurde und ein alter Mann mit einem knorrigen Stock heraustrat, der sich zufrieden einen dunkelroten Filzhut auf dem Kopf zurechtrückte. Schneider Torgant folgte ihm direkt nach und überschüttete den Alten mit zahlreichen Worten über die Trefflichkeit der neuen Kopfbedeckung. Als er Mijaléjin sah, wurde sein Gesicht noch strahlender. Er hob die Hand zum Gruße, machte dann aufgeregt auf dem Absatz kehrt und war mit einem „Ich bin sofort bei Euch, werte Dame“, wieder hinter dem Vorhang verschwunden.

Mijaléjin musste über diesen Arbeitseifer genauso lächeln wie der alte Mann, der noch immer seine rote Filzkappe befingerte.

„Ein schönes Stück“, lächelte Mijaléjin dem alten Mann zu.

„Durchaus. Mit einem Hut wird man auch ganz anders wahrgenommen, als ohne. Nicht wahr?“

„Ja“, nickte Mijaléjin. „Doch werde ich mir dennoch einen Reisemantel anfertigen lassen.“

„Ah! Also zieht es euch in den kalten Norden?“

„Nordwesten. Nach Gründelschwinge, um genau zu sein. Meine Gefährten werden in einigen Tagen hier eintreffen.“

„Nach Gründelschwinge? So. So.“ Sinnierend kratzte sich der alte Mann den Bart. „Was macht denn eine Gruppe Elben in Gründelschwinge?“

Mijaléjins Gesicht hellte sich auf. „Nein, nein“, lachte sie. „Ich reise nicht mit Meinesgleichen. Meine Reisegesellschaft sind Menschen – Mittelländer und auch Varen.“

„Varen?!“ Der alte Mann kam einen Schritt näher und fingerte etwas unter seiner Weste hervor. „Ich habe selbst lange bei den Varen gelebt. Bin sozusagen selber einer. Seht hier.“ Er hielt Mijaléjin ein Amulett hin, das sie voller Staunen als bemaltes, hölzernes Vorinsrad erkannte – ein ähnliches, das auch Uldvey voller Stolz trug.

„Wie wunderbar! Meine Gefährten werden sich sehr freuen, einen Landsmann in der Fremde zu treffen.“

Nun rückte sich der alte Mann wieder den Hut zurecht – ein Zeichen der Verlegenheit, wie Mijaléjin versucht war zu glauben. Seine Worte bestätigten tatsächlich ihren Eindruck: „Es tut mir leid, aber ich muss Euch enttäuschen. Mein Weg führt mich nach Arn. Und mein Schiff ...“ Der alte Mann beugte sich nach vorn, um aus dem Fenster sehen und den Stand der Sonne beurteilen zu können.“... legt bald ab. Ich werde nicht auf Eure Freunde warten können – auch wenn ich dies sehr gern tun würde.“

„Dann werde ich ihnen von Euch erzählen“, lächelte Mijaléjin. „Und wenn ich mich nicht täusche, dann liegt Arn doch in der gleichen Richtung wie Gründelschwinge. Vielleicht werden sich die Varen dazu entschließen dorthin weiter zu ziehen.“

Der alte Mann lächelte und griff seinen knorrigen Wanderstab fester. „Das würde mich sehr freuen“, sagte er und ging zur Tür hinaus.



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