Begegnung: Tryck und Eric vom Berg
In den letzten Tagen war es merklich kühler geworden. Der Sommer neigt sich dem Ende zu, dachte Tryck. Er blickte die Hafenstraße hinunter, wo reges Treiben herrschte: Händler boten Waren an, Fischer machten unter lautem Rufen die Taue ihrer Kutter fest und entluden den Fang des Morgens. Tryck hoffte insgeheim noch immer, dass er unter den Menschen den hellblonden Haarschopf seines Bruders entdecken würde, aber Dag blieb verschwunden. Sie hatten sich verloren, als sie – der unbedachten Hitzköpfigkeit seines Bruders geschuldet – sich wieder einmal überstürzt aus dem Staub hatten machen müssen. Mythodea war kein Ort, an dem man sich hätte leicht wieder finden können.
In der Hoffnung, dass sein Bruder selbiges tun würde, hatte Tryck eines der Schiffe genommen, die sie schon vorher ins Auge gefasst hatten. Nun saß er seit Tagen hier fest. Immer wenn ein neues Handelsschiff anlegte, kam er zur Kaimauer, um den lebhaften Strom der Menschen auf der Hafenstraße zu beobachten und um zu sehen, ob Dag unter den Passagieren war. Aber so wie es aussah, war seine Hoffnung auch diesmal wieder vergebens gewesen. Denn mittlerweile hatte die Mannschaft des Handelsschiffs schon mit dem Abladen der Fracht zu begonnen, und so war es unwahrscheinlich, dass sich noch Passagiere an Bord befanden. Tryck griff nach dem schwarzen Fell, das er in den Morgenstunden um die Schultern getragen, dann aber bald abgelegt hatte, warf einen letzten Blick zu der Stelle des Schiffs, wo Planken die Lücke zwischen Anlegestelle und Schiffswand überbrückten, um Mitreisenden das Anlandgehen zu erleichtern, als dort eine Gestalt auftauchte, die eindeutig nicht zur Schiffsmannschaft gehörte. Tryck wartete, bis der alte Mann die Planken überquert hatte, ehe er auf ihn zuging und ihn ansprach. „Mein Gruß, alter Mann!“ Tryck versuchte seiner Stimme einen milden Ton zu geben. Er wusste, dass sein Äußeres den Alten erschrecken musste. „Ja?“ Der alte Mann blieb stehen, stütze sich auf seinen knorrigen Stock, an dem eine Laterne hing. „Sind noch andere Reisende an Bord des Schiffes? ... Ich ... ich suche meinen Bruder Dag.“ Der Alte kratzte sich den struppigen grauen Bart und schüttelte bedächtig den Kopf. „Wenn Euer Bruder auch von Eurer Statur ist“, sagt er und schaute zu dem Hünen auf, „dann ist es unerheblich, ob noch andere Reisende an Bord sind, denn Euer Bruder war in jedem Fall nicht dabei.“ Tryck nickte und wollte sich gerade mit einem Gruß abwenden, als ihm das hölzerne Amulett auffiel, das der Alte an einem Lederband um den Hals trug. Ein solches Zeichen hatte er schon einmal gesehen – auch wenn es damals nicht aus Holz sondern Metall gewesen war. „Alter Mann ...“, hob er an. „Eric ist mein Name“, knurrte der Alte. „Eric vom Berg.“ „Ah, nun, Eric vom Berg.“ Tryck räusperte sich, nannte seinen eigenen Namen und kam dann zum eigentlichen Punkt seines Interesses: „Das Zeichen, das Ihr da um Euren Hals tragt, kenne ich. So eines habe ich schon einmal bei einem Ordenskrieger gesehen. Vielleicht kennt Ihr ihn. Uldvey ist sein Name.“ Der alte Mann überlegte einen Moment, runzelte die Stirn. „Nein, einen Mann mit diesem Namen kenne ich nicht. Muss aber ein Streiter Vorins sein, wenn Ihr ihn als Ordenskrieger beschreibt.“ Und dann fügte er noch hinzu: „Dieses Zeichen hier ist das Vorinsrad – ein Sinnbild des Schutzes unseres Herrn Vorin.“
Als Tryck das hörte, wusste er, dass er Eric vom Berg begleiten würde. Eine Gruppe Varen in Gesellschaft einer Elbenfrau – das konnten niemand anderes sein, als Uldvey, Mijaléjin, Angus und deren Freunde. Tryck wollte sie nur zu gern wieder treffen. Und der Reiseweg lag durchaus auf dem Weg in seine Heimat im Norden, sodass gleichzeitig noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestand, dass er bei diesem Ausflug auch seinen Bruder wieder finden würde.
|
nächste Episode |