Auf der Reise nach Arn: Angus' Abschied

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„Können wir nicht einfach weiterreisen?!“ Hiki-Te ließ den Tonkrug mit Tee auf die hölzerne Tischplatte knallen.

Mijaléjin zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Geduld!“, sagte sie sanft.

„Geduld!“ echote Hiki-Te. „Das hat mein Meister auch immer zu mir gesagt – dass ich Geduld haben soll.“ Seufzend verdrehte sie die Augen. „Vielleicht hätte ich doch mal lieber öfter meditieren sollen, wie es mein Meister von mir verlangt hat ...“

Mijaléjin schmunzelte flüchtig. „Euer Meister war ein weiser Mann“, sagte sie. Doch so recht wollte an diesem Tage kein behagliches Gefühl bei ihr einstellen. Mijaléjin warf einen sorgenvollen Blick hinüber zu der Holzstiege, die ins Obergeschoss der Taverne führte, in der sie schon seit zwei Tagen rasteten. Kurz darauf kam Uldvey die Stufen herunter.

„Und?“ fragte Mijaléjin. „Wie geht es ihm?“

Uldvey zuckte die Schultern. „Unverändert. Mala braut ihm einen Trank...“

„Aber Angus verlangt stattdessen nur nach Vorins Bestem?“ wollte Mialéjin wissen.

Uldvey nickte. Es war ihm anzusehen, dass es ihm nahe ging, dass sein Reisegefährte und langjähriger Freund Angus Feuerkelch seit den Vorfällen mit den Dunkelelfen in Gründelschwinge derart aus der Bahn geraten war.

„Lasst uns abreisen!“ versuchte es Hiki-Te erneut.

Falk griff nach einem Apfel, der auf dem Tisch lag. Bisher hatte er sich aus der Unterhaltung herausgehalten, doch nun meinte er in sein sorglosen Art: „Das Wandern ist des Schneiders Lust – vertreibt die Sorgen und den Frust.“

Uldvey zog die Augenbrauen hoch. Ihm war in Anbetracht der Situation weder nach Reisen noch nach Scherzen zumute.

Doch dann nickte Mijaléjin. „Ja. Vielleicht ist es nicht die schlechteste Idee. Auf Reisen kommt Angus auf andere Gedanken.“

Und so verließen die Gefährten das Gasthaus, um auf der Straße weiter nach Osten zu reisen. Doch verlief ihre Reise schweigsam und auch die Abende waren freudlos, denn Angus weigerte sich, die Laute hervorzuholen und zu spielen.

„Wir alle haben diesen Fehler begangen“, versuchte es Mijaléjin eines Abends, als Angus noch immer am Feuer saß, während alle anderen schon schliefen.

Angus schwieg eine ganze Weile, und Mijaléjin wartete.

„Es liegt nicht nur an den Dunkelelfen“, sagte Angus schließlich. Abwesend griff er nach einem Tannzapfen und warf ihn in die Glut. „Es ist alles so sinnlos, wenn man redet und keine Antwort bekommt.“

„Aber wir reden doch mit dir.“ Mijaléjin wusste nicht, worauf der Vorinspriester hinauswollte.

„Schon. Aber das ist nicht das Gleiche.“ Ein weiterer Tannzapfen landete in der Glut. „Ich spreche Gebete und ich frage um Rat, doch Vorin hört mich nicht. Und wenn er mich hört, dann antwortet er nicht ... ach, der Herr ist allgemein irgendwie sauer ... ich weiß auch nicht.“

Mijaléjin wusste darauf nichts zu sagen. Sie hatte nie begriffen, warum sich die Sterblichen mit der Bürde der Götter beschwerten, statt sich einzig auf sich selbst, das Sein und das Nicht-Sein zu verlassen.

Am Morgen mahnte sie ferner Donner zur Eile. Seit dem Sonnenaufgang hatte sich der Himmel nicht wirklich erhellt und nun fegte ein böiger Wind über die Straße.

„Wir müssen uns beeilen!“ mahnte Mijaléjin.

„Ja! Ich bin ja schon seit gestern Abend für Weiterreisen“, pflichtete Hiki-Te bei.

Uldvey warf ihr einen ärgerlichen Blick zu und versuchte Angus noch eindringlicher auf die Beine zu bringen. „Komm schon!“ Er rüttelte seinen Freund rüde an der Schulter. „Wach auf, Angus!“ Und an Mijaléjin gewandt fragte der Ordenskrieger: „Was hat er bloß letzte Nacht gemacht? Du warst doch noch wach, Mia. Oder?“

Die Elbenkriegerin nickte. „Er hat sinniert – wie jede Nacht. Als ich zur dritten Stunde schlafen ging, saß Angus immer noch am Feuer.“

Londrak hob das kleine hölzerne Bierfass an, dass sie in der letzten Taverne erstanden hatten. „Leer!“ meinte er und schüttelte es. „Nicht mal ein kleiner Rest!“

Mala stemmte die Hände in die Hüften. „Wie unvernünftig schon wieder!“

„Er will Vorins Gunst erzwingen, indem er von Seinem Besten trinkt“, versuchte Uldvey zu erklären. Und leiser fügte er hinzu: „Doch er bekommt nur Vorins Rache* ...“

„Kannst du nicht irgendetwas tun, Mala?“ Mijaléjin warf einem hilflosen Blick hin zu den dunklen Wolkenbergen am Himmel. „Oder du, Falk?“

Falk zog den Mund schief. „Ich könnte jemanden schlafen legen – aber was das magische Aufwecken betrifft ... das müsste ich erst noch lernen.“

Als die ersten Tropfen fielen, hatten sie es gemeinsam irgendwie geschafft, Angus auf die Beine zu stellen und zum Gehen zu bewegen. Doch wirklich schnell kamen sie nicht voran, und die Stimmung wurde noch schlechter. Der Vorinspriester erntete den ein oder anderen ärgerlichen Blick, schien das aber nicht zur Kenntnis zu nehmen und trottete schlurfend hinter seinen Gefährten her.

Uldvey ließ sich von der Spitze der Gruppe zurückfallen. Regen klatschte ihm ins Gesicht. Als er schließlich neben Angus herging, umklammerte er das Vorinsrad, das er um den Hals trug und keuchte nachdrücklich: „Wir müssen beten, Angus, dass dieses Wetter endlich aufhört!“

Regen lief ihnen in kleinen Rinnsalen über die Gesichter. Angus schüttelte den Kopf. „Nein, Uldvey. Vorin erhört meine Gebete sowieso nicht mehr ...“

Ungläubig riss Uldvey die Augen auf. Eine Windbö riss an seinem Mantel und trieb ihm einen peitschenden Regenschauer entgegen. Der Ordenskrieger sah das eindeutig als tadelnde überirdische Antwort auf Angus’ Worte und seine Finger krampften sich noch fester um das Vorinsrad um seinen Hals.

Am Abend hatte der Regen noch immer nicht nachgelassen. Die Gefährten waren schon seit Stunden bis auf die Haut durchnässt, hatten aber nicht gewagt, irgendwo Rast zu machen – so lange man in Bewegung blieb, kühlte man wenigstens nicht aus. Dann sahen sie in einiger Entfernung eine erleuchtete Hütte.

„Hörst du das?“ fragte Mijaléjin an Uldvey gewandt.

Dieser schüttelte verdrießlich den Kopf. Mit vorwurfsvollem Unterton in der Stimme brummte er: „Ich habe nicht deine Elbenohren, Mia!“

Doch kurze Zeit später nahm er durch das unablässige Rauschen des Regens eine Melodie wahr, die aus Richtung der Hütte kam.

Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. „Das Lied von der Budweise?!“ rief er in die Runde. Londrak lachte polternd. „Ja! Ein varischer Barde ... und da dürfte ein gutes Vorins Bestes nicht weit sein!“

Und mit diesen Worten war die Schwere der letzten Stunden vergessen und die Gefährten beeilten sich, die erleuchtete Hütte zu erreichen. Selbst Angus schien von der Euphorie seiner Gefährten angesteckt. Und als sie triefend den verräucherten Schankraum betraten, sollte die Freude über ein Dach über dem Kopf und die Aussicht auf die lang vermisste varische Unterhaltung sogar noch gesteigert werden. Denn der Barde, den sie spielend neben dem offenen Kamin der Wirtschaft erblickten, war kein anderer als Roderik – ein alter Freund von Uldvey und Angus.

Das gab ein herzliches Wiedersehen mit lauten Rufen und Lachen. Bei etlichen Humpen Bier wurde die gute alte Zeit gefeiert und die Erinnerung ließ die Strapazen des Tages und selbst Angus’ trübe Stimmung verfliegen.

Als sie kurz vor Mittag des nächsten Tages erwachten, mussten die Gefährten feststellen, dass Angus’ Lagerstatt leer war. Mit ungutem Gefühl eilten sie in den Schankraum hinunter. Doch der war ebenfalls leer; von den Wirtsleuten keine Spur.

„Er ist noch da“, sagte Mijaléjin plötzlich lächelnd.

Uldveys fragender Blick ließ Mijaléjin erklären: „Hört ihr es nicht? ... Von draußen klingt der Klang zweier Lauten.“

Und tatsächlich: als sie hinaus ins Freie traten, erkannten sie in einiger Entfernung Angus und Roderik, wie sie in der Mittagssonne unter einem Baum saßen, angeregt debattierten und musizierten.

Den Gefährten fiel ein Stein vom Herzen. Angesichts Angus’ leerer Bettstatt hatten sie alle einen heimlichen, nächtlichen Aufbruch des Freundes befürchtet. Sie gingen hinüber und stellten fest, dass die Stimmung des Vorinspriesters so gut war wie schon lange nicht mehr. Und auch Roderik war begeistert. „So viele neue Lieder“, lachte er. „Das wird einige Zeit brauchen, bis ich die alle gelernt habe.“

Mijaléjin zögerte einen Moment. „So lange können wir uns leider nicht hier aufhalten“, sagte sie bedauernd.

Roderik grinste die Elbenkriegerin an. „Ich erwarte nicht, dass ihr hier bleibt“, meinte er leichthin. „Ich werde euch begleiten.“

Und so war die Gruppe um einen weiteren reisenden Varen reicher und beflügelt durch Roderiks Spieleifer zogen sie durch das Land gen Osten.

„Und wohin führt uns die Reise?“ wollte Roderik wissen, als sie bereits zwei Tage unterwegs waren.

„Zur Burg Arn“, verkündete Uldvey. „Wir wollen dort einen Landsmann treffen. Einen alten weisen Mann wie Mia sagt.“

Roderik zog die Augenbrauen hoch. „Arn ist doch keine Burg – das ist eine Insel.“ Mijaléjin, die der Gruppe etwas voraus gegangen war, dank ihrem elbischen Gehör dem Gespräch wohl aber dennoch gefolgt war, blieb stehen, bis Uldvey und Roderik zu ihr aufgeschlossen hatten.

„Seid Ihr sicher, Roderik?“ wollte sie wissen. „Es ist zwar schon viele Jahre her, doch glaube ich mich an Arn als eine Burg zu erinnern.“

„Nein, nein.“ Roderik schüttelte vehement den Kopf. „Arn ist eine Insel.“

Uldvey zuckte die Schultern und schlug Angus, der neben ihm ging, auf die Schulter. „Na, dann werden wir wohl wieder eine Schiffreise machen, was?“

Angus nickte nachdenklich, sagte aber nichts. Die Schweigsamkeit des Vorinspriesters wurde von Tag zu Tag merklicher. Sie wurde nur dann durchbrochen, wenn Roderik ihn bat, eine Melodie zu spielen oder einen Liedtext zu wiederholen, damit er diesen lernen konnte.

Nach einigen Wochen erreichten die Gefährten die Küste und bald darauf eine kleine Hafenstadt. Schnell war ein Schiff gefunden, dass sie nach Arn bringen konnte. „Und wie viele Reisende seid ihr?“ wollte der Kapitän wissen.

Uldvey zählte leise die Namen auf und ergriff dann wie gewöhnlich das Wort, um für die Gruppe zu sprechen: „Wir sind acht.“

„Sieben“, sagte Angus.

„Sieben?“ Uldvey wiederholte die Namen laut. Als er Angus’ Namen nannte, schüttelte dieser den Kopf.

„Ich werde euch nicht begleiten. Ihr müsst ohne mich nach Arn fahren“, sagte er tonlos. Man sah dem Vorinspriester an, dass ihm diese Aussage nicht leicht fiel.

„Na, was jetzt?!“ polterte der Kapitän in die Runde. „Könnt ihr euch nicht entscheiden?“

Uldvey fuhr herum. „Halt’ du dich da raus, Mann!“ herrschte er entgegen seiner Art den Seemann an. Und an Angus gewandt erklärte er unmittelbar: „Ich begleite dich natürlich, Angus. Das ist meine Pflicht.“ Dabei warf der Ordenskrieger einen Blick in die Runde und man sah, wie sehr ihn seine Aussage grämte.

„Nein, Uldvey. Ich gehe allein“, sagte Angus bestimmt. Und dann fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich gehe zurück nach Hause, in unser Kloster. Ich muss wieder einen Weg zu Vorin finden. Und das ist ganz allein meine Sache. Du kannst da nichts ausrichten. Und – bei Vorin – ich könnte mein Gewissen nicht damit belasten, dich in mein Versagen mit hineinzuziehen.“

Die Stille, die nun entstand, wurde nur durch das Schreien der Möwen unterbrochen. Selbst der Kapitän schien begriffen zu haben, dass es hier um mehr ging, als nur um eine sorglose Unstimmigkeit unter Reisenden.

Uldvey legte Angus schließlich die Hand auf die Schulter, drehte sich langsam zu dem Kapitän um und sagte mit ruhiger Stimme: „Sieben. Wir sind sieben, die nach Arn übersetzen wollen.“


* varische Redeweise für „Kater nach einer durchzechten Nacht“


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